Leipzig: Wo Mozart Lerchen naschte
Durch Parkhäuser zu fahren, ist sicher nicht der schönste Zeitvertreib. Im Hauptbahnhof von Leipzig hat das jedoch Erlebniswert – zumindest in den beiden oberen Etagen der Osthalle. Denn deren Parkdecks liegen – zum Reisen wirklich sehr bequem – offen in der hohen, hellen Bahnsteighalle, die zu den größten und auch schönsten in Europa zählt.
„Danke fürs Abholen“, sagt Sylvie Weidner, die soeben mit dem Zug gekommen ist. Die Leipzigerin ist gelernte Buchhändlerin und angehende Stadtführerin. An diesem Vormittag will sie sich selbst bei einem Übungsrundgang auf die Probe stellen. Und da die City vor der Tür liegt, eignet sich der Hauptbahnhof ganz wunderbar als Ausgangspunkt. Schon in den Bahnhofspromenaden geht es los.
Die Rolltreppe bringt uns hinab. Direkt unterm Querbahnsteig liegen zwei Etagen voller kleiner Läden, Supermärkte und Gastronomie. „Ich erinnere mich, wie groß in den 1990ern die Entrüstung war, als man von den Plänen hörte, dem geliebten alten Hauptbahnhof eine ganze Shopping Mall zu implantieren“, erinnert sich die 51-Jährige.
Mit dem Ergebnis jedoch freundete man sich sehr schnell an. Seit das vormals schmutziggraue Monstrum nach Umbau und Sanierung im alten, hellen Glanz erstrahlt, gehört es – samt schickem Einkaufszentrum (welches optisch überhaupt nicht stört, das Gebäude aber ungemein belebt) – zu den ersten Sehenswürdigkeiten, die die Einheimischen ihren Gästen zeigen. Bis heute gilt der Hauptbahnhof von Leipzig als gutes Beispiel dafür, wie sich historische Architektur bewahren und zugleich auf zeitgemäße Weise nutzen lässt.
Zum Essen oder Trinken bieten die Bahnhofspromenaden heute Dutzende Gelegenheiten. Sächsische Klassiker wie echtes „Leipziger Allerlei“ (mit Flusskrebsen und Waldpilzen) werden aber eher in der Innenstadt serviert. Dorthin wollen wir jetzt fahren. Jawohl, wir machen uns den Spaß und nehmen für die knapp 500 Meter bis zum Markt die „U-Bahn“. Der Weg hinunter und hinauf dauert länger als die einminütige Fahrt durch den Citytunnel. Seit 2013 verbindet der den Haupt- mit dem Bayrischen Bahnhof durch eine unterirdische zweigleisige S-Bahntrasse mit insgesamt vier Tiefstationen. Als Teil des regionalen Streckennetzes bindet dieser Abschnitt Leipzigs Innenstadt perfekt ins Umland ein.
Lerchen und Motetten
Per Rolltreppe geht es nach oben und ins Freie. Zwischen Blumen, Obst und Fisch landen wir vorm Alten Rathaus auf dem Wochenmarkt. „Etwas Süßes auf die Hand?“ fragt uns die Frau am Bäckerstand. Ihre „Leipziger Lerchen“ sehen köstlich aus. Wir nehmen zwei. Der kleine Krümelkuchen in Pastetenform mit zwei gekreuzten Streifen oben drauf besteht aus Mürbteig mit Marzipan und Marmelade.
Sein Aussehen wie auch der Name stammen aus der Zeit, als man die armen Vögel hier tatsächlich buk und aß und sogar exportierte. Ein Fan davon soll Wolfgang Amadeus Mozart gewesen sein. 1789 weilte der Komponist in der Stadt, wo er u. a. den damaligen Thomaskantor Johann Friedrich Doles traf und auf der neuen Orgel in der Thomaskirche spielte. Auch hörte er eine Motette von Doles‘ Vorgänger Johann Sebastian Bach, die ihm so gut gefiel, dass er um eine Kopie der Partitur bat.
Bach war bis zu seinem Tod 1750 Kantor des Thomanerchors und Musikdirektor in Leipzig – 27 Jahre, in denen der Komponist unvergleichliche Werke schuf. Seinen Amtsantritt anno 1723 würdigt die Stadt heuer zum 300. Jubiläum mit zahlreichen Veranstaltungen. Im Mittelpunkt steht das Musikfestival „BACH for Future“ vom 8. bis 18. Juni (siehe Infos). 1796, fünf Jahre nach Mozarts Tod, sang dessen Witwe, die Sopranistin Constanze Mozart, im Leipziger Gewandhaus mit, als dort das inzwischen vollendete Requiem in d-Moll erstmals außerhalb Wiens aufgeführt wurde. Leipzig gefiel ihr, doch die gebackenen Lerchen soll sie „ekelhaft“ gefunden haben.
Goethe und Faust
„1876 wurden das Essen von Singvögeln verboten“, setzt Sylvie ihre Führung fort. Seitdem sind die Küchlein süß und ohne Lerchenfleisch – und machen dafür richtig satt, wie ich gerade wieder spüre. Aber ein Stadtbummel ohne Naschen geht in Leipzig nicht. Früher gab es dafür sogar einen extra Ort. Er liegt Hinterm Alten Rathaus, an der Alten Börse. Noch immer heißt er Naschmarkt. Sylvie erklärt, warum: „Obst galt als Süßigkeit. Und hier hat man damit gehandelt.“ Als Gastro-Freisitz und Event-Location dient der Platz auch heute noch zu Gaumenfreuden. Überragt wird er von einem Bronzeabbild des Genießers Goethe. Doch steht das Denkmal hier wohl eher für den Dichter. Leipzig, seine Studienstadt, war ein großer Meilenstein auf seinem Weg dorthin.
Nicht weit von dort, am Neumarkt, wohnte Johann Wolfgang fast drei Jahre lang. Gleich um die Ecke lag seine Lieblings-Zechadresse: Auerbachs Keller. Das berühmte Gasthaus, in dessen Gewölben schon im 15. Jahrhundert Wein ausgeschenkt wurde, ist ein Handlungsort der Sage um Herrn Dr. Faustus, die Goethe schon seit Kindertagen faszinierte. Indem er es in seinem Hauptwerk „Faust“ verewigte, ging das Leipziger Lokal in die Weltliteratur ein. Neben dem Harzer Brocken („Blocksberg“) ist es der einzige konkret benannte Ort in der Tragödie.
Nach ein paar Schritten sind wir schon bei seinen Helden Faust, Mephisto und den „drei verzauberten Studenten“. Seit 1913 schmückt die bronzene Skulpturengruppe von Mathieu Molitor den Eingang zu Auerbachs Keller. Zugleich markieren die Figuren den Anfang zum berühmtesten von Leipzigs wundersamen Wandelwegen – der Mädlerpassage. Kaum anderswo gibt es so viele „überdachte“ Ladengassen, von Licht- und echten Höfen unterbrochen. Fast verlaufen kann man sich in ihrem Labyrinth zwischen Nikolai- und Thomaskirche, Bildermuseum, Oper und Gewandhaus, Moritzbastei, Neuem Rathaus und den Höfen am Brühl. Der Grund für diese bauliche Besonderheit war der einst knappe Platz. Gerade einmal 45 Fußballfelder maß die Stadt, in welcher seit dem Mittelalter der internationale Handel blühte. Kreuzten sich doch hier Europas Lebensadern Via Regia und Via Imperii.
Klangvolle Wandelwege
Man baute immer mehr und größer. Es wuchsen die Bevölkerung und auch die Warenmessen, die Leipzig mehrmals jährlich fast zum Bersten brachten. Denn bis zur Neuzeit zwängte es sich in die engen mittelalterlichen Grenzen. Die Stadtmauern blieben bis zum Ende des 18., Tore, Graben und Basteien bis weit ins 19. Jahrhundert hinein bestehen. Die Moritzbastei von 1554, heute Kulturzentrum, ist das letzte erhaltene Stück der ehemaligen Stadtbefestigung.
Indem die alten Leipziger ihre Gebäude mit Durchfahrtswegen, Gastwirtschaften und Geschäften unterhöhlten, nutzten sie die Fläche mehrfach. Ganz unten fand das ganze Jahr der öffentliche Alltag statt. Darüber wohnte man. Die obersten Etagen dienten als Warenlager und als Messeräume. Auch wenn später daraus regelrechte Mustermessehäuser wurden: Die Passage war und ist in vielen Fällen das Wichtigste am ganzen Bauwerk.
So streifen wir noch lange weiter durch die inhäusigen Ladenstraßen, stoßen bei den Stationen der „Notenspur“ (ein Spaziergang auf den Spuren der Leipziger Musikgeschichte, der sich im Umland auch im Fahrradsattel als „Notenrad“, „Notenbogen“ oder „Notenweg“ fortsetzen lässt) auf illustre Namen und Begebenheiten und lassen uns nicht stören, wenn es draußen regnet. Zum Naschen, Stärken und Erfrischen gibt es endlos viele Möglichkeiten. In den Genuss von Sylvie Weidners Stadtgeschichten kommen hoffentlich bald viele Leipzig-Gäste. Von mir kriegt sie für diese wunderbare Probe-Tour auf jeden Fall die beste Note.
Tipps & Infos
Anreise: Der Leipziger Hauptbahnhof liegt mitten in der City, ist aus allen Richtungen gut erreichbar (www.bahn.de, www.oebb.at) und per „Bimmel“ (Tram), Bus und S-Bahn mit dem ganzen Stadtgebiet vernetzt (www.l.de);
Fahrtzeit von Wien: etwa 7 h mit dem Zug oder Auto. eisen ab Wien mit dem Zug in ca. 7 Stunden mit Umsteigen, per Nachtzug ohne Umsteigen (Fahrzeit 9:40 Std.); ab Salzburg mit Umsteigen in München ca. 5 Stunden
Per Direktflug mit Austrian (www.austrian.com) von Wien nach Leipzig (1 h 10 min).
Übernachten in der Altstadt: Vom Hostel bis zum Grand Hotel, z. B. Five Elements Hostel am Beginn der Kneipenmeile Barfußgässchen, Motel One an der Nikolaikirche oder Steigenberger an der Alten Börse
Essen & Trinken: Vom historischen, gutbürgerlichen Auerbachs Keller (www.auerbachs-keller-leipzig.de) über das Bachstüb’l an der Thomaskirche (www.bachstuebl-leipzig.de) bis zum extravaganten Max Enk am Neumarkt (max-enk.de) reicht das Spektrum der City-Gastronomie. Als kulinarische Institution gilt unter Leipzigern die Milchbar Pinguin mit einem Rest von DDR-Charme, zwischen Markt und Sachsenplatz (www.milch-bar-pinguin.de). Das beste Leipziger Allerlei gibt es im Mein Leipzig (restaurant-meinleipzig.de) in der Käthe-Kollwitz-Str. 71, die besten Leipziger Lerchen im Café Corso, Brüderstr. 6 (corsoela.de).
Bachfest: Im Rahmen des Jubiläumsjahres „300 Jahre Bach in Leipzig“ (www.bach300.de) findet vom 8. bis 18. Juni 2023 das Musikfestival „BACH for Future“ (www.bachfestleipzig.de) mit zahlreichen Konzerten, Führungen, Ausstellungen und einer wissenschaftlichen Konferenz statt. Zu den Höhepunkten zählt das Open-Air-Konzert „Tribute to Bach“ am 9. Juni, ab 19 Uhr, auf dem Marktplatz. Tickets gibt es noch hier: https://bach-archiv-webshop.tkt-datacenter.net
Routen durch die Musikstadt: Alle Informationen zu „Notenspur“, „Notenrad“, „Notenbogen“ und „Notenweg“ gibt es, auch als App, unter notenspur-leipzig.de
Auskünfte und Stadtführungen: Tourist-Information, Katharinenstr. 8, Tel. +49 341 710 42 60, www.leipzig.travel
Die Recherche zu diesem Beitrag wurde unterstützt von der Leipzig Tourismus und Marketing GmbH. Text & Fotos: Carsten Heinke